Reinecke & Wimmer

22.11.2014 –
19.01.2014

Die Kirche im Dorf

In Dörfern sind die Kirchturmspitzen die höchsten architektonischen Punkte. Man sieht sie von weitem und zwischen und über den Häusern. Sie sind gewissermaßen allgegenwärtig. Auswärtigen dienen sie zur Orientierung im Ort. In manchen Dörfern ist die Kirche ein Gefängnis.

2013 hatte das Land Baden-Württemberg für den Neubau der Justizvollzugsanstalt in Stuttgart-Stammheim einen Wettbewerb für Kunst am Bau ausgeschrieben. Die Geschichte des Ortes als zentraler Schauplatz des deutschen Herbstes sollte dabei ausdrücklich nicht thematisiert werden. Mitglieder der RAF waren hier inhaftiert - und hier kamen sie auch unter ungeklärten Umständen ums Leben. Stammheim II soll als „freundliches“ Gefängnis erscheinen, der Hochsicherheitsbau aus den 60er Jahren abgerissen werden.

Tim Reinecke und Daniel Wimmer nahmen dennoch an dem Wettbewerb teil. In ihren Arbeiten fragen sie nach dem Zweck, den Kunst hier erfüllen soll: Dient Kunst am Bau einzig der Legitimierung von Macht und der Verfestigung einer herrschenden Geschichtsschreibung? Soll Kunst hier einen menschenunwürdigen Ort, der ein Gefängnis immer auch ist, nur verschönern?

Im Sinne der Ausschreibung, der es ja um die bloße Verschönerung ging, produzierten die Künstler das Modell Stuttgart: große Blumenkübel aus Beton, die sie mit Stiefmütterchen bepflanzten, in Gestalt des alten Stammheimer Gefängnisses. Der Knast als Stadtmöbel. Im Zuge des Wettbewerbs hatten die Künstler Zugriff auf vertrauliche Baupläne. Diese schredderten sie und fertigten aus den bunten Papierstreifen große gewebte Collagen.

Mit ihrem Wettbewerbsentwurf 48° 51‘ 15‘‘ N, 9° 9‘ 16‘‘ E hielten sich Reinecke&Wimmer an die Vorgaben der Auslobung und unterliefen sie gleichzeitig auf subtile Weise: Ein Feld aus anthrazitfarbenem Schotter legt sich quer über das Gefängnisgelände und die vier zu gestaltenden Höfe. Die dunkle Fläche entspricht einem stilisierten Schattenwurf des alten Gefängnisbaus. So wird der Geschichte zum Verbleib verholfen.

Zum Wettbewerbsentscheid reisten alle teilnehmenden Künstlerinnen und Künstler nach Stuttgart. Reinecke&Wimmer präsentierten ein Architekturmodell des Geländes mit ihrem Entwurf. Bereits vor der Jurysitzung wurden sie von einzelnen Mitgliedern des Gremiums beschimpft. Die Kirche war offenbar nicht im Dorf geblieben.

Das Modell wurde in einem geschlossenen Raum in einer nichtöffentlichen Sitzung von der Jury besprochen. Nach ihrer Abreise brachen die Künstler ihr Modell gewaltsam auf. Sie fertigten daraufhin Cut-Up-Collagen möglicher Abhörprotokolle der geheimen Jury-Sitzung an. Sätze, die hätten gesagt werden können, reihen sich aneinander. Was geschehen war, wird offen gelassen. Über den Tathergang lässt sich spekulieren. Gesichertes Wissen gibt es nicht. Dies ist typisch für diesen Ort, der so geschichtsträchtig ist und bleibt.